Ein «Choroianer» aus Schwaben unterwegs in China
Choroi Association e. V. unterhält seit 2017 intensiven Kontakt zu verschiedenen Situationen in China. Mittlerweile unterstützen wir den Aufbau einer sozialtherapeutischen Situation in Nanjing mit einem eigenen Musikinstrumentenbau und einem perspektivischen Choroi-Musikinstrumente-Servicestützpunkt für Asien.
Report and photos: Steffen Klepzig, workshop manager at Karl-Schubert-Gemeinschaft e. V., Filderstadt (Germany) and board member at Choroi e. V.
Die geschichtliche Besonderheit Chinas
China lebt 5‘000 Jahre Kulturentwicklung, jahrhundertelang oft der europäischen Entwicklung voraus. Ein Phänomen u. a. dabei: Man sucht(e) wenig Kontakt nach außen, war sich selbst genug. Die chinesische Mauer ist ein gutes Bild! Nicht nur das Land mauerte sich ein, auch die Städte (Beispiel 60 km Stadtmauer von Nanjing) oder selbst die einfachen alten Bauernhäuser.
Besonders tragisch in der Geschichte Chinas waren die Opiumkriege (Mitte des 19. Jahrhunderts): England suchte den hochwertigen Tee (und Seide) und erpresste ihn endlich mit der Freigabe von Konzessionshäfen (fünf nach dem ersten, elf weitere nach dem zweiten Opiumkrieg), als Dank pumpte England Unmengen an Opium für den Handelsausgleich (!) nach China hinein. Die Folgen waren tragisch, Steiner spricht sogar von karmischen Nachwirkungen (GA 173). Ich selber habe in Nanjing 2018 eine Ausstellung besucht und erfuhr über die Spätfolgen durch den Opiummissbrauch noch über Generationen!
Der letzte Konzessionshafen war Hongkong (ursprünglich endlos verhandelt, dann aber bis 1997). Die Opiumkriege bedeuteten einen tiefen Einschnitt, wurde doch das Misstrauen gegenüber den Fremden grausam bestätigt. … und sie waren sicherlich ein recht traumatisches Erleben für die chinesische Volksseele (oder dem kollektiven Unterbewusstsein). Mein Eindruck: China erduldet viel, aber ich vermute auch: Es vergisst nicht. Das im besten Fall uneingeschränkte Verzeihen ist dann wohl eher eine christliche Errungenschaft …
Wie sieht es nun aber aus, wenn man in China heute landet?
Ich kam in Shanghai an (wörtlich: Stadt über dem Meer), eine Megacity mit geschätzten 24 Millionen Einwohner:innen! In der Flächenausdehnung größer als das gesamte Ruhrgebiet und mehr als doppelt so groß wie das Saarland – von der Bevölkerungszahl einmal ganz abgesehen!
Ein Spiegel der Moderne! Im Prinzip ist so gut wie einfach alles digitalisiert und läuft über Apps. Auch Kleinigkeiten werden über Bezahlfunktionen beglichen, selbst die Spenden in den Tempeln. Die Infrastruktur ist perfekt, Bahnhöfe befinden sich an der Peripherie und funktionieren wie Flughäfen (inklusive Pass- und Gepäckkontrollen). Man wartet in der Halle und checkt oberhalb des Bahnsteiges ein, bevor der Zug ankommt – kein Stehen auf dem Bahnsteig. Der Verkehr ist sehr leise, ich schätze mindestens zu 50 % der Autos und nahezu 100 % der Roller sind elektrisch angetrieben. E-Autos sind in der Zulassung gebührenbefreit, Verbrenner zahlen dafür deutlich (13‘000 €). Die Ampeln zeigen die Wartezeit in Sekunden an, wer mit Navi fährt, sieht dieses Abzählen auch da und hört dann einen kleinen Signalton drei Sekunden vor grün. Eine Logik allerdings habe ich nicht erkannt beim Verkehrsfluss, nämlich im Zwischenverkehr von Roller und Auto.
Auf Nachfrage bekam ich die Antwort: Alle achten aufeinander – es blieb für mich trotzdem ein Phänomen, gleichwohl ich keine Unfälle gesehen habe. Bei Gewährung der Vorfahrt wird sich nicht bedankt, es wird aber auch kein Dank erwartet …
Und immer wieder landet man aus dem städtischen Trubel in stillen Tempelanlagen, großzügigen Parkanlagen oder chinesischen Gärten voller Ruhe! Überraschend: Diese Art der chinesischen Gartenanlagen gibt es wohl nur im Süden, also südlich des Jangtse.
Wo war ich außer in Shanghai und was habe ich getan?
Nach einem Tag in Shanghai (Bund, das Kolonialviertel, Yu Yuan, das chinesische Viertel und Pudong, die neue Seite über dem Mutterfluss) ging es mit dem Schnellzug (75 min.) ca. 300 km westlich entlang des Jangtse nach Nanjing (ca. 6,5 Mio. und wiederholt ehemalige Hauptstadt, wörtlich: südliche Hauptstadt – im Gegensatz zu Beijing, wörtlich: nördliche Hauptstadt).
In Nanjing war ich schon 2018 (damals zusammen mit dem ehemaligen Geschäftsführer der Choroi-Vertriebs GmbH, Christoph Akeret) und die Heilpädagogische Schule (Regenbogenbrücke) von Frau Yuan ist mittlerweile umgezogen, nun etwas außerhalb der Stadt in wunderschöner dörflicher Lage gelegen. Die Regionalregierung hat beschlossen, diese Dörfer zu einem Kur- und Naherholungsgebiet umzugestalten, in der Nähe befinden sich heiße Quellen. Mitten in diesem neu konzipierten Gebiet konnte Frau Yuan die Gebäude einer ehemaligen Waldorfschule übernehmen.
Ihr fester Wille und Plan (und ich zweifle in keinster Weise an der Umsetzung) ist die Überführung der Schule in eine Werkstatt für Menschen mit Assistenzbedarf. Sie ist Schulleiterin, Lehrerin, seit einer Weile Abgeordnete und in ihrer eigenen Firma auch noch tätig. Wolfgang Seel (ehemaliger Choroi-Mitarbeiter vom Münzinghof, Deutschland) war 2019 und 2024 vor Ort, um die Schule und Werkstattperspektive zu begleiten. Er baute Metallglockenspiele. Mein Fokus lag nun auf der Herstellung von Holzklangstäben bzw. einem Holzxylophon, insbesondere bezüglich der Klang- und Schwingungsphänomene (u. a. Schwingungsknoten) und der Stimmbarkeit.
Mit bescheidenen Maschinen und einem geschickten und äußerst interessierten Lehrerkollegium gelang dies auch recht ansprechend in drei Tagen. Vorhanden waren Blöcke aus Teakholz (für die Klangstäbe) und aus Ahorn (für das Tragen der Klangstäbe). Selbstverständlich stand auch immer die Frage im Raum, welche Arbeiten dann später die Menschen mit Assistenzbedarf übernehmen können. In der Theorie blieb die Ausgestaltung des Klangkastens (mit einem ausgeklügelten Bodensystem) – einfach der eingeschränkten Maschinenmöglichkeiten geschuldet. Dies wurde aber mittlerweile im Nachhinein umgesetzt.
Weiterhin im Ausbau befinden sich vor Ort eine Bäckerei (mit schon sehr leckeren Produkten) und der Schulgarten (biologisch und für das tägliche Essen).
So stand drei Tage lang die sehr produktive Arbeit im Fokus, am Abend ging es dann zu kleinen Ausflügen nach Nanjing (ehemaliger Kaisersee und in die Altstadt von Nanjing). Natürlich immer verbunden mit einem leckeren Abendessen.
Beim letzten Besuch in Nanjing 2018 lernte ich auch Herrn Awen kennen: studierter Pfleger, ein sehr begabter Handwerker und damals Berater von pädagogischen Einrichtungen. Als er von meiner Reiseplanung erfuhr, bat er, dass ich ihn unbedingt treffen solle. Er ist jetzt in Heze, ca. 600 km nördlich von Nanjing und begleitet dort aktiv ein Zentrum für autistische Menschen (Tonghua Autism Caring Center). So fuhren wir mit dem Nachtzug im klassischem Liegewagen nach Heze und wurden am Bahnhof morgens mit Freuden empfangen.
Obwohl es Samstag war (und eigentlich arbeitsfrei), hatte Herr Awen dennoch alle zu einem Arbeitstag ‹verdonnert›, wie er berichtete nicht zur ganz großen Freude. Als wir im Zentrum ankamen, war davon überhaupt nichts zu spüren, ganz im Gegenteil! Natürlich überwog auch etwas Neugier, viele der beschäftigten Menschen sind noch keinem Europäer leibhaftig gegenübergestanden. Nicht nur die jungen Männer mit Assistenzbedarf (allesamt zwischen 20 und 30 Jahre alt), welche da leben und arbeiten, auch die komplette Belegschaft wartete (morgens um 9 Uhr). In Summe ca. 20 Personen zeigten mir nun mit Freuden das urbar gemachte Gelände (ich sah Bilder vom Beginn, es war wirkliches Brachland), welches sie 2017 übernommen hatten! Den biologischen Garten-/Gemüsebereich, dann die Werkstätten, Küche, Bäckerei, Kunstwerkstatt. Zwei bis drei Mal im Jahr kommen bekannte Kaligraphen und gestalten große Bänder, welche zugunsten der Einrichtung versteigert werden.
Herr Awen selbst hat eine Flötenwerkstatt aufgebaut, wo sowohl eigene Flöten als auch im Äußeren der Choroi-Flöte recht ähnliche, aber klanglich doch abweichend, hergestellt werden.
Wir besprachen dies in aller Offenheit und wir werden gemeinsam an weiteren Perspektiven und Möglichkeiten arbeiten.
Am Nachmittag durfte ich noch einen Vortrag zu Karl Schubert und der Karl-Schubert-Gemeinschaft halten. Im Anschluss kamen doch sehr interessante Fragen (u. a. zum Umgang mit Sexualität bei Menschen mit Assistenzbedarf). Zum Kollegium kam noch die Hauptsponsorin eigens dazu. Der gesamte Tag wurde natürlich komplett von einer Mitarbeiterin mit ihrem Mobiltelefon in Ton und Bild festgehalten.
Mit dabei in Heze war auch Frau Li von mercurius/cn, sie hatte speziell zu den Flöten ihre Fragen.
Am Sonntag ging es dann weiter mit dem Schnellzug (ca. 500 km) wieder an die Küste nach Qingdao (ebenfalls rund 6 Mio. Einwohner:innen). Dort wurde ich am Hotel von der Schulleiterin der Waldorfschule Frau Li begrüßt, kurz einchecken und schon ging es mit einem Teil des Lehrerkollegiums und auch Eltern (der Elternvertretung) zum Mittagessen ganz in der Nähe.
Die Waldorfschule in Qingdao liegt etwas außerhalb der Stadt, flankiert von den malerischen Ausläufern des Perlengebirges. Von Montag bis Mittwoch bauten wir dann an der Schule mit der 6. und 7. Klasse an kleinen Saiteninstrumenten. Die Saitensätze stellte mercurius/cn zur Verfügung, Wirbel hatte ich vorab versendet. Eine Schablone für die Mensur und Bohrungen hatte ich dabei.
Aufgrund der begrenzten Anzahl an Saitensätzen und Holzbrettern (Ahorn) hatte ich im Voraus schon darauf hingewiesen, dass wir in Pärchen arbeiten. Ich erläuterte am Montag den Schüler:innen mein Vorhaben: zunächst die Löcher für Wirbel und Saiten nach der Schablone bohren, um dann in die freie Gestaltung der Außenform zu gehen.
Mit großem Enthusiasmus wurde die Aufgabe in Begleitung des Werklehrers angenommen. Am Folgetag standen die Gestaltung und Ausarbeitung von Klangloch und Klangschale an (sich von der Außenform nun zur Innenform leiten lassen) – am letzten Tag dann die Veredelung der Oberflächen. Am Ende entstanden elf wunderbar individuell gestaltete kleine Instrumente, ein Instrument konnten wir auch besaiten und somit zum Erklingen bringen.
Beim Feedback in Anwesenheit der Schulleiterin Frau Li wies ich auf den eigentlichen Prozess hin: beginnend mit der sozialen Aufgabe der Pärchen-Findung und das immer in Pärchen weiter gemeinsame Gestalten und Arbeiten. Man kann dies simpel als Handwerk bezeichnen – aber auch als einen sozial-künstlerischen Prozess. So wurden nicht nur handwerkliche Fähigkeiten vertieft, sondern eben auch (frei nach J. Beuys) sozial-künstlerische Qualitäten ausgebildet.
Es war großartig, die jungen Menschen mit Freude und Enthusiasmus zu erleben! Und ganz nebenbei – kein einziges Handy wurde während der gesamten Zeit gezückt (außer meines zum Dokumentieren), es herrscht ein Handyverbot für die Schüler:innen an der Schule und ich hatte nie den Eindruck, dass die Handys vermisst wurden – selbst nach Schulende war dies kein Thema, im Gegenteil: es wurde noch ausgiebig Frisbee gespielt …
Dazu ein zwischengeschobener kleiner Nachtrag: Vor Beginn der Sommerferien gestaltete die 6./7. Klasse eine Monatsfeier für die Schule mit den nun allesamt fertiggestellten Instrumenten.
Auch zum Abschluss an der Schule durfte ich einen kleinen Vortrag zur Heilpädagogik und Sozialtherapie (es war der 18.6.!) und speziell zu Choroi (die Historie sowie Klang- und Bauprinzipien) halten – im Schulsaal waren ca. 20 Personen anwesend, im Livestream allerdings über 1‘000 … Auch hier wurden wieder sehr gezielte Fragen zur anthroposophischen Sozialtherapie gestellt inklusive zu den verschiedenen Ausbildungsmöglichkeiten. Ein durchgehendes Hauptmotiv in beiden Vorträgen (also in Heze und Qingdao) war: den Menschen nicht nach seiner Einschränkung oder Behinderung zu definieren, sondern durch die ‹Behinderung› hindurchsehen, ihm einfach als Menschen zu begegnen, zu begleiten und nach den gegebenen Möglichkeiten zu fördern.
Am Ende der Schultätigkeit hatte ich noch einen freien Tag in Qingdao mit einer Besichtigung der Altstadt. Qingdao hat auch eine kurze deutsche Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die vorhandenen Gebäude im Jugendstil dienen gerne als Kulisse für die Filmindustrie und oft findet man Menschen, welche sich an bestimmten Stellen (Filmmotive) gegenseitig fotografieren.
Lange vor der Reise (in der Weihnachtszeit) stieß ich ‹zufällig› über C. G. Jung auf den Sinologen Richard Wilhelm, der als Missionar zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Qingdao mehr als 20 Jahre lang tätig gewesen war. Im Anschluss wurde er Begründer und langjähriger Leiter des Deutsch-Chinesischen Institutes in Frankfurt – seine Aussage zum Lebensende war: Es sei sein größter Verdienst gewesen, keinen einzigen Chinesen bekehrt zu haben. Ein gutes Vorbild!
Den letzten Tag verbrachten wir wieder in Shanghai, diesmal in Zhujiajiao, der malerischen Wasserstadt. Das war dann originale Folklore. Apropos: Man sieht immer wieder in den verschiedenen Städten (meist junge) Frauen in klassischen chinesischen Gewändern an ausgewählten Plätzen, um sich für Social Media zu präsentieren. In China lebt eben Tradition und Moderne!
Was bleibt
Die Infrastruktur ist mit der hierzulande nicht zu vergleichen! Niemals würde man in China einen Bahnhof in einer Innenstadt jahrzehntelang umbauen. Diese rücken an die Peripherie, die Strecken werden neu gebaut, in der Regel auf Stelzen, was mich ein wenig an Carrerabahn erinnert hat. Man rumpelt nicht bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof über eine romantische Vorgleisarchitektur umrahmt vom Güter- und Nahverkehr. Entschädigungen für Bauland oder Umsiedlungen verlaufen recht großzügig, zumeist werden Familien anhand ihrer Personenanzahl mit Wohnungen in den Städten bedacht, oft mehr als notwendig und es gibt schon den Ausdruck der Umsiedlungs-Millionäre (Einkünfte aus Vermietungen).
Waldorfschulen finanzieren sich, wie zumeist auf dieser Welt, über private Schulgelder. Heilpädagogische Schulen erhalten eine geringe finanzielle Unterstützung vom Staat, umfangreicher bekommen diese Einrichtungen für körperbehinderte Menschen. Die Menschen mit einer geistigen Behinderung bekommen jedoch zudem eine Unterstützung, welche dann an die Eltern oder im Erwachsenenalter direkt an die Schulen oder Werkstätten geht. Im Prinzip läuft so die hauptsächliche Finanzierung über ein persönliches Budget.
Faszinierend ist die allgegenwärtige Spiritualität. Wahrscheinlich würden sich die wenigsten Chines:innen als religiös (in unserem Sinne) bezeichnen. Tief verwurzelt sind dennoch eine Mischung aus Buddhismus, Daoismus und die Weisheiten des Konfuzius. Die chinesische Küche, die traditionelle chinesische Medizin, allgemeine Achtsamkeit (siehe u. a. Straßenverkehr), Qigong in den Parkanlagen, Wiedergeburt – alles so selbstverständlich.
Eine Szene möchte ich noch als beispielhaft schildern, da sie für mich ebenso bemerkenswert wie bezeichnend war: Im Zug nach Qingdao fiel einer Dame ihre halbvolle Wasserflasche aus Glas auf den Boden und zersprang in Scherben. Wie aus dem Nichts erschien keine 20 Sekunden danach eine Frau vom Service und fegte zusammen, ging, kam zurück und wischte feucht den Boden sauber und verschwand (ich konnte nicht wirklich nachvollziehen woher und wohin) … Man versuche, diese Situation in einen ICE der Deutschen Bahn zu übertragen.
Am Ende bleiben für mich sehr berührende und erfüllende Eindrücke – um einiges intensiver als nach meiner ersten Reise. Überall wurde ich voller Herzenswärme und Gastfreundschaft, von mit Tatendrang und Pioniergeist durchseelten Menschen empfangen. Ein großer Dank gilt zudem der unaufdringlichen und doch immer präsenten und geistreichen Begleitung von meinem Übersetzer Herrn Liu!
Und – nie hatte ich irgendwo und irgendwie das Gefühl an all den Stationen und Begegnungen, dass den Menschen etwas fehlen würde – im Gegenteil! Es hilft allerdings enorm, die eurozentrische Brille bei einem Besuch in China abzulegen …